
Das Wort, das satt machte
Eine Geschichte zum Nachdenken
Es war mal eine Frau, die sagte häufig Ja, doch all diese Ja-Worte lagen ihr schwer im Magen und fühlten sich an wie Wackersteine.
Manche dieser Jas waren spitz und scharf, andere dagegen grob und plump.
Die Frau sammelte diese Steine in ihrem Bauch, der daraufhin immer dicker und dicker wurde und mit der Zeit keinen Platz mehr für ein Butterbrot hatte.
„Du musst aber doch was essen“, sagte ihre Mutter vorwurfsvoll am Frühstückstisch.
„Ach“, winkte die Frau ab, „ich hab einfach keinen Hunger“, doch ihr Bauch rumorte widersprechend und so steckte die Mutter ihr trotzdem ein Marmeladenbrötchen in die Tasche, als sie aus der Haustür ging.
Als die Frau an diesem Tag in einem Arbeitsmeeting saß, rumorte ihr Bauch im falschen Moment sehr, sehr laut.
Sie verzog das Gesicht vor Schmerz und versuchte, sich zu strecken.
Ihre Chefin blickte sie an: „Gut, dass Sie sich melden, Frau Hering. Können Sie diese Aufgabe noch übernehmen?“
Die Frau blinzelte und stöhnte und doch lag ihr das Ja-Wörtchen bereits auf den Lippen. In ihrem Bauch aber grummelte und polterte es gewaltig.
Die Steine kullerten herum, zwickten und bissen.
Und zaghaft, nur leicht, schüttelte die Frau zum ersten Mal den Kopf.
Und bereute es sofort.
„Wie meinen Sie?“, fragte die Chefin und hob eine Augenbraue.
Alle anderen Augenbrauen im Raum taten es ihr gleich und die Frau spürte die dazugehörigen Blicke wie zwickende Gabelstiche.
Oh, wie diese Gabelblicke ihr in den Bauch stachen.

Die Steine darin versuchten den Hieben zu entweichen und sprangen umher.
Sie zwickten sie in Milz und Leber.
Ein Stein, ein gewaltiger, sprang bis zu ihrem Herzen und als hätte sie Schluckauf, rief die Frau auf einmal:
„Ich kann wirklich nicht“.
Im Meetingraum wurde es still.
Die Augenbrauen der Chefin berührten vor Überraschung fast die Deckenlampe.
Die Frau würgte und schluckte, doch dann konnte sie nicht mehr anders.
Sie spuckte das gefürchtete Wort heraus:
„NEIN“.
In diesem Moment hörte sie, wie in ihrem Bauch etwas zerbarst.

„Bähm“
Es klang fast so, als würde ein Feuerwerk explodieren.
Funken stoben aus ihren Ohren.
Sternchen sprühten aus ihren Nasenflügeln.
Die Chefin zuckte erschrocken zusammen.
Die Frau fasste sich entsetzt an ihren Bauch und lief sogleich zur Betriebsärztin.
„Muss ich jetzt sterben?“, fragte sie atemlos.
Die Ärztin, die ihre Patientin kannte, tastete den Bauch der Frau ab und setzte das Stethoskop an. Erst dann schüttelte sie den Kopf: „Nein. Sie haben nur einen Stein zum Explodieren gebracht“.
„Was?“, fragte die Frau entsetzt.
Die Ärztin lächelte: „Das ist gut. Das hilft ihrem Bauch“.
Die Frau verdaute diese Nachricht, nickte dann und ging zurück zu ihrem Schreibtisch. Dort atmete sie tief durch, besah sich das mitgebrachte Marmeladenbrötchen und klappte entschlossen ihren Terminplaner auf.
Darin markierte sie alle Aufgaben, die sie für andere übernommen hatte. Sie notierte Äußerungen, die sie nicht teilte und Gefälligkeiten, die sie gar nicht schuldig war.
Als sie damit fertig war, stand sie auf und ging von Bürotür zu Bürotür.
Und dort sagte sie etwas, was sie früher nie getan hatte:
Sie sagte Nein.
Und so machte es „Puff“ und „Peng“ an diesem Tag.

Mit jedem Nein explodierte ein neuer Stein in ihrem Bauch.
Funken erleuchteten die Flure.
Sternenschauer und der Geruch von Schießpulver lagen über den Türklinken.
Die Leute nahmen Reißaus, wenn die Frau um die Ecke kam und riefen ihr bereits zu: „Schon gut, schon gut“.
Und so hakte sie Punkt für Punkt auf ihrer Liste ab.
Zum Feierabend hin, strich sich die Frau über ihren Bauch, der jetzt gehörig zitterte, aber nur noch ganz leise gluckerte.
Er fühlte sich sehr frei und leer an und endlich verspürte die Frau wieder Hunger.
Mit einem Haps verschlang sie das Marmeladenbrötchen und wollte mehr.
Aber kochen? Sie schüttelte den Kopf. Nein. Heute nicht.
Auf dem Weg nach Hause kaufte sie stattdessen eine riesige Pizza für sich und ihre Mutter und kam strahlend die Haustür herein.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte die Mutter überrascht.
„Ich hab Nein gesagt“, sagte die Frau. „Nein zu Aufgaben, Nein zu Terminen, Nein zu irgendwelchen belanglosen Sachen, Nein zu Dingen, die ich nicht mag. Nein. Ab heute kümmere ich mich nur noch um meinen Kram und nicht mehr um den von anderen“.
„Oh“, da wurde die Mutter ganz blass.
Sie wollte auf einmal keine Pizza mehr essen und schlurfte in ihr Zimmer.
Als die Tochter ihr folgte, hatte die Mutter bereits den großen Koffer aus dem Schrank geholt und packte ihre Kleider hinein.
„Was tust du da?“, fragte die Frau.
Da seufzte die Mutter: „Du hast gesagt, dass du dich nur noch um deinen Kram kümmern willst“.
„Ja und?“, fragte die Frau verwirrt.
„Na. Seit ich älter geworden bin und hier wohne, kümmerst du dich ja auch um mich. Und deshalb sollte ich ins Altenheim ziehen. Besser heute als morgen“.
Da führte die Tochter die Hand der Mutter an ihren Bauch.
Ein einzelner kleiner Kiesel kullerte dort hin und her.
„Weißt du, dieser eine Stein tut mir nicht weh. Und ich trage ihn gerne in mir“.

©️ Anna Voge, 2024
(Bilder mit Canva erstellt)
Märchen-Anmerkung
In einem Märchen ist alles wandelbar und kann als Metapher betrachtet werden.
Und so geht es auf einmal vielleicht gar nicht um eine „echte“ Mutter, die der Kiesel symbolisiert.
Plötzlich kann dieser kullernde Stein auch für ein anstehendes Projekt, für einen Wunsch, eine Verpflichtung oder etwas ganz anderes stehen.
Ein Stein, der vielleicht Mühe macht, aber doch so wertvoll ist, dass er einen Platz im Bauch (und sei es nur vorübergehend) behalten darf…
Alles Liebe, Anna
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